Xavier Dolan (Mommy) ist schon eine spezielle Hausnummer. Wer sich bereits mit den Werken des Frankokanadiers auseinandergesetzt hat, der wird auch an dieser Stelle verstehen können, dass dieses „speziell“ keinesfalls verächtlich gemeint ist. Dolan lieferte bereits mit nicht einmal 20 Jahren sein erstes Werk I Killed My Mother ab und erfuhr bei den Filmfestspielen von Cannes viel Lob und Anerkennung, obgleich Dolan sich den ostentativ geäußerten Vorwurf gefallen lassen müsste, er würde sich zu sehr auf den Stil, die Oberfläche, das Aussehen seines Films fixieren und den Blick für das Wesentliche verlieren. Gewiss, einige Manierismen waren in I Killed My Mother vertreten, nur taten sie dem Handlungsverlauf in diesem Fall überhaupt keinen Abbruch, vielmehr erwies sich der junge Mann bereits dort als künstlerischer Meister der (Selbst-)Inszenierung. Bei seinem Nachfolger Herzensbrecher war agierte er aus visueller Sicht dann schon etwas gefälliger, etwas arroganter, konnte die Phantasmen und das Wirrwarr der Verliebtheit in seinem Experiment der Sinnlichkeit dennoch gekonnt einfangen.
Substanzlos war weder I Killed My Mother, noch Herzensbrecher, was Dolan allerdings mit seinem dritten Film Laurence Anyways mit unverbrauchten 24 Jahren auf die Beine gestellt hat, lässt so manchen alten Hasen im Geschäft vor Neid erblassen. Der zentrale Klebstoff im Schaffen von Dolan war immer die Liebe, die Liebe als Kampf, die Liebe als beflügelnder Höhenflug, die Liebe als letzter Halt in der Orientierungslosigkeit des Seins. Und was Roman Polanski schon vor Jahren festgestellt hat, verinnerlicht Dolan in intensivierter Form: Normal love isn't interesting. Vom Outing in der Pubertät, zur wuseligen Ménage à trois und hin zur Transsexualität. Und genau diese Transsexualität verkauft Dolan natürlich auch als vortreffliche, ehrliche und in ihrer lustvollen Intimität als ungemein ehrliche Metapher auf das Leben, das Selbstsein und, wie könnte es anders sein, auf die verschiedensten Stadien einer sich gegenseitig stärkenden und den neuen Umständen schließlich unterliegenden Beziehung. Und dafür nimmt sich Dolan beinahe 170 hervorragend ausgenutzte Minuten Zeit.
Wie Dolan bereits zuvor beweisen konnte, lasst sich seine Eigenart als Autorenfilmer nicht pauschalisieren und klassifizieren. Laurence Anyways ist in seiner Darbietung nicht minder durchzogenen von pulsierender Vitalität, von vibrierender Dynamik, er erweckt hingegen den Eindruck, als wären I Killed My Mother und Herzensbrecher nur die wirklich gelungene und frühreife Aufwärmphase für Laurence Anyways gewesen, in dem sich Dolan nun auch nicht mehr selbst in Szene setzen muss, sondern die Bühne dem in der Hauptrolle mehr als herausragend auftretenden Melvil Poupaud und Suzanne Clément, die Laurences Freundin Fred verkörpert. Was Dolan seinen Hauptdarstellern abverlangt ist enorm, wie authentisch und lebensnah vor allem Poupaud seinen schwierigen Part ausfüllt, ist eine cineastische Offenbarung. Trifft das unerfahrene Auge auf Dolan Ästhetisierungsmittel, könnte es vorerst womöglich ein Schwieriges sein, die formalen Impressionen in ihrer hintergründigen und aussagekräftigen Komplexität zu sortieren. Viel wichtiger ist es aber, hinter die Zeitlupen und das eindrucksvolle Modebewusstsein Dolans zu blicken, um den Kern, die Sinnhaftigkeit dieser zu genießen.
Laurence Anyways fokussiert einen Mann, der sich Zeit seines Lebens fremd im eigenen Körper fühlt, sich seiner Sexualität aber im Klaren ist und auch nach erzielter Metamorphose seiner geliebten Freundin und Seelenverwandten treu bleibt. Interessant ist dabei zu beobachten, wie Dolan die Entwicklung von Laurence nicht nur an die Dekade von 1989 bis 1999 bindet, in dem Freundin Fred nach anfänglichen Zweifeln postuliert, „ihre Generation wäre bereit für diesen Schritt“, im Endeffekt sie es aber ist, die dem spießigen Selbstbetrug direkt in die Arme läuft, sondern feste gesellschaftliche wie familiäre respektive zwischenmenschliche Normen hinterfragt. Dolans Epos ist in seinen diffizilen Geflechten ein anregender, stimulierender, wachrüttelnder Appell an das Vertrauen in sich selbst; an elementare Entscheidungen, die der Öffentlichkeit befremdlich erscheinen mag, die auch aufgrund ihrer Andersartigkeit mit Missachtung und Schlägen ausbezahlt wird, doch das eigene Ich ohne Einschränkungen befreit. Natürlich ist Laurence in seinem Mut ein Vorbild und natürlich ist sein Verhalten alles anderes als ein Revolte, sondern eine Revolution. Eine Revolution, die doch heute endlich jeder akzeptieren sollte. Sky is the limit.